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Nudging, Verhaltensökonomie nutzen
31.01.2024
Heute schon genudged wurden? Angestoßen wurden, etwa was zu tun? Wörtlich ist ein Nudge erstmal nichts anderes als ein sanfter Anstoß. Dieser Artikel selbst ist hoffentlich ein Anstoß, aber hinter dem Begriff Nudging steht ein ganzes Konzept. Kurz gesagt es geht darum, wie wir Menschen zu Entscheidungen kommen und die Möglichkeiten gute Entscheidungen anzustoßen.
Doch langsam, zwei Beispiele schaffen Klarheit. Manche Autofahrer haben es schwer mit einer angepassten Geschwindigkeit zu fahren. Vielleicht helfen dann aufgemalte Speed bumps. Oder Raucher werden an Konsequenzen erinnert, mit einer Raucherzone in Form eines Sarges. Was haben diese Beispiele gemeinsam? Jeder kann über aufgemalte Speed bumps hinweg brettern und rauchen so viel er will. Es sind nur kleine Nudges, die unser Verhalten beeinflussen sollen.
2008 haben der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Richard Thaler und der Rechtswissenschaftler Cass Sunstein im Buch „Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt“ Nudging unterhaltsam und informativ aufbereitet. Demnach ist ein Nudge ein sanftes Lenken von individuellen Entscheidungen und sollte folgende Eigenschaften haben:
… muss eine Wahl lassen.
… muss transparent sein.
… darf nicht irreführend sein.
… muss aus rationaler Sicht des Einzelnen zu seinem Vorteil sein.
… muss aus rationaler Sicht zum Vorteil für alle sein.
Alle anderen Handlungsanstöße sind Manipulation und werden in der Fachliteratur Sludges, Evil nudges oder Dark patterns genannt. Die Werbeindustrie kennt diese genau. Basis für jegliche Art von Handlungsanstößen ist Verhaltensökonomie, mit Biases und Heuristiken. Thaler und Sunstein knacken für uns einige dieser Mechanismen der Verhaltensökonomie in ihrem Buch. In einer unübersehbaren Menge von offline und online Publikationen finden sich hunderte solcher Verhaltensmechanismen.
Schon vier kleine Beispiel können solche Biases und Heuristiken gut illustrieren:
Ankereffekt: Wenn Sie mit ihren Kunden ein gutes Lokal besuchen, die Weinkarte mit einem Spitzenpreis von 280 € in der Hand, dann scheint die Flasche für 60 € eine ganz vernünftige Wahl zu sein.
Selbstüberschätzung: Einen Warnhinweis nicht zu beachten, weil man eben ein Profi ist. Oder wie Umfragen immer wieder zeigen; 90 % der Autofahrer halten sich für überdurchschnittlich gute Autofahrer, obwohl überdurchschnittlich max. 50 % sein können.
Auffälligkeitsverzerrung: Hervorgehobene Optionen werden bevorzugt. Na, heute schon einen (hervorgehobenen) Cookie-Banner bestätigt?
Bestätigungsfehler: Es werden Optionen gewählt, die eine selbst bestätigen und seinen (verzerrten) Erfahrungen entsprechen.
Homo oeconomicus und Homo sapiens
Verhaltensökonomie versucht reales menschliches Verhalten auf Grundlage von Biases und Heuristiken in Entscheidungssituationen zu erklären und für eine Entscheidungsarchitektur zu nutzen. Thaler und Sunstein unterscheiden dazu den Homo oeconomicus und den Homo sapiens. Der Homo oeconomicus ist absolut rational. Er entscheidet auf Basis aller zur Verfügung stehenden Informationen, reichen diese nicht aus, arbeitet er mit Wahrscheinlichkeiten. Sie kennen solche Sätze von Mr. Spock: „ … mit einer Wahrscheinlichkeit von 76 % werden wir bei der Rettung des Außenteams alle sterben.“
Auf der anderen Seite der Homo sapiens der unterliegt Urteilsverzerrungen und Annahmen. Wir Menschen handeln nicht rational. Vielleicht möglich in einzelnen Gebieten unseres Handelns. Aber in allen? Nein. Wir sind bei weitem nicht so rational wie wir von uns selbst glauben. Wir denken, wir sind Herr im Haus, sind es aber nicht. Dieser Gedanke selbst ist schon eine Urteilsverzerrung.
Diese beiden Typen stehen für zwei unterschiedliche Systeme der kognitiven Verarbeitung, dem automatischen System und reflektierenden System.
Automatisches System
Unkontrolliert
Mühelos
Assoziieren (Verknüpfend)
Schnell
Unbewusst
Erlernt
Reflektierendes System
Kontrolliert
Angestrengt
Deduzierend (Ableitend)
Langsam
Bewusst
Regelgeleitet
Das automatische System arbeitet schnell und instinktiv … wir ducken uns, wenn ein Ball unerwartet auf uns zugeflogen kommt. Das reflektierende System setzen wir ein, um uns zum Beispiel für eine Strukturierungsmethode in unserem neuen Redaktionssystem zu entscheiden. Den weitaus größeren Teil aller Entscheidungen treffen wir Menschen mit unserm automatischen System. An genau dieser Stelle kommt Nudging in Spiel. Mit einem Nudge stupsen wir den Entscheider in eine für ihn vorteilhafte Richtung, ohne ihn seiner Entscheidungsfreiheit zu berauben.
Nudging-Strategien
Um ungünstige Entscheidungen durch Urteilsverzerrungen und Annahmen zu vermeiden, gibt es typische Nudging-Strategien und Kombinationen daraus. Mit einem Nudge soll der einzelne die Alternative wählen, die er mit allen Informationen rational wählen würde, so wie es ein Homo oeconomicus machen würde.
Defaults: Der Klassiker, die angehakte Checkbox für doppelseitigen Druck.
Vereinfachung: Formulare nutzerfreundlich und simpel gestalten.
Soziale Normen: Gasverbraucher darüber informieren, dass ihre Nachbarn weniger Gas als sie selbst verbrauchen, um zur Sparsamkeit anzustoßen.
Einfachheit: Die beste Option tatsächlich einfach zugänglich zu machen.
Offenlegung: Kunden werden von ihrem Stromlieferanten über den aktuellen Verbrauch und Kosten informiert, um einen ökonomischen Verbrauch zu unterstützen.
Warnungen: Warnungen finden wir überall, von den berühmten Hinweisen auf Zigarettenschachteln bis zum klassischen Sicherheitshinweis. Wir nudgen also schon. Leider viel zu viel, so dass diese Strategie ein zahnloser Tiger geworden ist.
Selbstbindung: Menschen haben es schwer selbst gesteckte Ziele einzuhalten. Offenlegung der Ziele unterstützt die Selbstbindung.
Erinnerungen: Mit Erfolg wurden Steuerzahler darüber zu informiert, dass schon 80 % ihrer Nachbarn die Steuererklärung abgeben haben. Die Kombination mit sozialer Norm war viel wirksamer als eine einfache Mahnung.
Durchführungswillen: Menschen handeln öfter, wenn man gezielt nach ihren Absichten fragt. Z. B. in öffentlichen Toiletten mit einem kleinen Sticker „Hände gewaschen?“. Kombiniert man diese Strategie mit sozialer Norm, „Hat ihr Nachbar Hände gewaschen?“, erhält man einen sehr wirkungsvollen Nudge.
Konsequenz: Konsequenz ist Teile eines jeden Warnhinweises oder steckt auch in der Raucherzone in Form eines Sarges.
Abhängigkeit von Situation und Person
Jeder strebt grundsätzlich für sich positive Zustände und Ergebnisse an. Mit einem Nudge werden Informationen gegeben um das zu erreichen. In der Abbildung hier geschieht das mit Konsequenz und Offenlegung in Form verloren Kalorien mit jeder Stufe. Das funktioniert immer? Nein! Bei weitem nicht, wie wir von unserer „brancheneigenen“ Nudging-Strategie, der Warnung, wissen. Nudges sind abhängig von Situation (Ort, Tageszeit, Zeitdruck, …) und Person (Alter, Charakter, Vorlieben, …). Tatsächlich ging die Kombination aus Rolltreppe und Treppe zu einem Fitnessstudio und die Leute waren im Modus „Kalorien einsparen“. Eine ähnliche Konstellation an einem Bahnhof würde sehr wahrscheinlich nicht so gut funktionieren. Die Leute haben Gepäck, sind in Eile oder eine Variante ist voller als die andere.
Und wir können uns auch selbst nudgen, mit einem Knoten im Taschentuch, wie König Peter bei Georg Büchners „Leonce und Lena“. König Peter machte sich einen Knoten ins Taschentuch, um wenigstens einmal am Tag an sein Volk zu denken, wie generös. Und schon sind wir bei unseren Regierungen. Natürlich, Regierungen wollen das Verhalten der Bürger beeinflussen und haben dazu einen Werkzeugkasten:
- Zuckerbrot
- Regierungen:
Fördermittel - Technische Kommunikation:
Gamification, Storytelling, Utility Filme, Screencast, Virtual Reality, Augmented Reality
- Regierungen:
- Peitsche
- Regierungen:
Gesetz und Strafe - Technische Kommunikation:
„… verwenden Sie nur Originalersatzteile, sonst …“
- Regierungen:
Aufklärung
- Regierungen:
Flyer, Webseiten, Portale, Datenbanken, Anzeigen - Technische Kommunikation:
Sicherheitshinweise und Warnhinweise
- Regierungen:
Und neu:
- Nudging
- Regierungen:
Defaults, Zugang vereinfachen - Technische Kommunikation:
Defaults, Verfügbarkeit (Content Delivery Portal), Einfachheit
- Regierungen:
Thaler und Sunstein haben nun diesen Werkzeugkasten ganz offiziell erweitert. Obama hatte sie, Cameron hatte sie und viele andere auch, eine Nuding Unit. Staatliches Handeln soll zwar effektiv sein, aber Lockungen, Verführungen und unbemerktes Einwirken auf die Psyche ist etwas für Werbeagenturen, nichts für den Rechtsstaat, so die oft gehörte Meinung.
Libertärer Paternalismus
Dennoch, wenn man, mit so einem Werkzeug, an die Politik geht oder von ihr gerufen wird, dann kann man das nicht nur Nudging nennen, sondern Thaler und Sunstein nennen das wissenschaftlich, libertärer Paternalismus. Das klingt paradox oder korrekter nach einem Oxymoron, komplett gegensätzlich. So was wie „stummer Schrei“, denn libertär steht für maximale Wahlfreiheit und Paternalismus für einen vormundschaftliche Politikstil. Das muss kein Widerspruch sein. Ein Entscheidungsarchitekt kann Entscheidungsfreiheit gewähren und dennoch Menschen in eine bestimmte Richtung schubsen, so dass diese zu besseren Entscheidungen kommen. Verführung zum Guten, so Thaler und Sunstein.
Was könnte das für uns bedeuten?
Eine Umfrage unter knapp 1000 Personen aus unterschiedlichen Unternehmen zur Verwendung von Schutzeinrichtungen an Maschinen ergab ernüchterndes. 37 % Schutzeinrichtungen wurden dauerhaft oder vorübergehend manipuliert, 80 % der Befragten fühlten sich nicht unsicher, die Hälfte sah die Manipulation als unkritisch, 29 % fühlten sich bei der Arbeit an manipulierten Maschinen mutig, 33 % empfinden Schutzeinrichtungen als Schikane und 5 % wussten erst gar nicht, dass sie an manipulierten Maschinen arbeiten.
Hier kommen offensichtlich Biases und Heuristiken, wie Selbstüberschätzung, Gruppenzwang, Bequemlichkeit, Lust am Risiko und Konsequenz, die nicht wahrscheinlich genug ist, zur Wirkung.
Hersteller und wir als Redakteure reagieren mit rationalen Informationen; Sicherheits- und Warnhinweise, Sicherheitszeichen und der Benutzerinformation insgesamt. Aber, wie die Umfrage zeigt, die Benutzer handeln irrational … alles Menschen.
Wie wäre es also mit ein paar instruktiven Nudges. Ich habe hier mal zwei kleine Beispiele konstruiert. Das kleine Problem ist, wir können typischerweise nur in instruktiven Texten und Abbildungen, vielleicht noch mit Beschilderungen und Sicherheitszeichen nudgen. Der viel größere Hebel im Produktdesign und UI ist leider für die meisten von uns Fehlanzeige.
Ein sehr technisches Beispiel, ein Futterschutz an einer Werkzeugmaschine. Ist der Futterschutz geschlossen, sieht der Benutzer einen lachenden Smiley und bei geöffnetem Schutz einen sorgenschweren Smiley. Eine subtile und emotionale Warnung, die auch bei geöffneter Schutzeinrichtung sichtbar ist. Durch die Personifizierung der Information spielt auch etwas soziale Norm mit hinein und Erinnerung sowieso. Die Eigenschaften für einen guten Nudge passen, wenn wir davon ausgehen, dass der Benutzer durch Manipulation eine Wahl hatte, den Futterschutz geöffnet zu lassen. Aber denken wir an die Abhängigkeiten von Nudges. Wird das wirken, wenn sich Nutzer bei der Arbeit an manipulierten Maschinen mutig fühlen oder Schutzeinrichtungen als Schikane empfinden? Nicht zuletzt blickt das Smiley im Futter voller Sorge, da herumfliegende Späne es sehr bald wegradiert haben werden.
Ein instruktives Beispiel, eine Warnung vor Sachschäden. Verschiedene Schmierstoffe mischen kann sehr unangenehme Folgen haben, wenn man Glück hat, passiert nichts, mit etwas Pech flockt es nur ein wenig und mit viel Pech stockt die Kombination komplett. Ich weiß, wovon ich rede, als junger Instandhaltungsmechaniker hatte ich die Gelegenheit viel zu lernen. Die Nudging-Strategien hier ist Konsequenz und Offenlegung und die Eigenschaften für Nudges passen.
Ab heute Entscheidungsarchitekt
Sind wir uns in der technischen Kommunikation den Mechanismen der Verhaltensökonomie mit Biases und Heuristiken bewusst und verstehen wir, wie unsere Nutzer zu Entscheidungen kommen, entwickeln wir Informationen für Homo sapiens und nicht nur für den Homo oeconomicus und wir können uns voller Stolz Entscheidungsarchitekt nennen. Denn, so wie wir unserer Informationsgebäude errichten, treffen die Nutzer Entscheidungen.
Kurz auf den Punkt gebracht: Nudging in Instruktionen ist sehr unscharf, bei der Produktgestaltung viel eher wirksam. Rechtswirksamkeit kann Nuding nicht entfalten. Für komplexe Entscheidungen nicht sehr geeignet, für klare Entscheidungssituationen kann Nuding jedoch gut wirksam sein.
Ob Sie nun über Nudging nachdenken oder nicht, der Verhaltensökonomie kann niemand entkommen.